Donnerstag, 23. Februar 2012

Eine Einladung

Noch eine kleine Begebenheit von meiner Reise nach Tscheljabinsk Ende Januar: In Tjumen, gegen neun Uhr morgens, stieg eine junge Frau mit ihrem etwa dreijährigen Sohn ein und setzte sich auf die Bank mir gegenüber. Der Junge hatte gerade einen leicht martialischen Roboter geschenkt bekommen und spielte damit. Wenn er nicht ruhig war, sagte die Mutter: Ich sage gleich den Onkeln Milizionären bescheid (die in der Zwischenzeit meine Dokumente überprüft hatten), damit sie dich abholen - pädagogisch wahrscheinlich sehr wertvoll. Eigentlich habe ich mich mit dem Jungen gar nicht viel beschäftigt, lieber etwas gelesen und gedöst. Aber als sie dann abends in Omsk ausstiegen (etwa acht Stunden von Novosibirsk entfernt), sagte er zu mir: Morgen renoviere ich unsere Wohnung, und dann kommst du zu uns zu Besuch. Wenn das keine Einladung ist!

Seelsorge als Dienst?

"Mach uns würdig, Herr, unseren Mitmenschen zu dienen, die in Armut und Hunger leben und sterben." Dieses Gebet von Papst Paul VI. (+1978) beten die Mutter-Teresa-Schwestern jedes Mal nach der Messe. Und mir scheint, daran ist etwas sehr Wahres. Denn nun ist Russland nicht ein Land allergrößten Elends, aber verschiedene Formen von Armut fallen doch mehr ins Auge als in Deutschland: Perspektivlosigkeit, Gewalt in Familien, Alkoholismus, aber tatsächlich natürlich auch Angst um die nackte Existenz. Die Versuchung ist groß, sich irgendwie überlegen zu fühlen (wobei: wieso eigentlich?).

Dazu kommt noch eine andere Versuchung: Der Priester (der orthodoxe ebenso wie der katholische) wird schlicht und einfach "Vater" genannt - in einem Land, in dem es eklatant an Vätern fehlt. Darin liegt wohl eine große Chance, diese Rolle anzunehmen und Menschen zu helfen, aber auch ein eklatantes Risiko, nämlich, asymmetrische Beziehungen auszunutzen.

Deshalb, scheint mir, ist es enorm wichtig, immer wieder zu lernen, sich auch von Gott darüber belehren zu lassen, wie wertvoll Freiheit ist oder Gerechtigkeit, und dass Vollmacht in der Kirche nur etwas taugt, wenn sie von diesen Tugenden geprägt ist, und von der Barmherzigkeit, also alles in allem von Liebe.

Und schließlich: Wenn man bemerkt, wie wertvoll ein anderer Mensch ist, jeder beliebige Mensch, auch wenn es ihm noch so dreckig geht, dann spürt man, spüre ich jedenfalls in der Tat: Wir, v. a. wir Priester, sind nicht würdig, anderen zu dienen, wir können es vielleicht aber mit Gottes Hilfe jeden Tag ein bisschen mehr werden.